Mahnmal Dortmund-Bittermark

1945

Das Mahnmal in der Bittermark im Dortmunder Süden erinnert an 300 Widerstandskämpfer und Zwangsarbeiter, die der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft noch wenige Tage vor Kriegsende zum Opfer gefallen sind. Sie wurden Anfang April 1945 im Rombergpark und in den Wäldern der Bittermark ermordet; viele von ihnen sind auf einer Waldlichtung, die wir damals „Große Spielwiese“ nannten, beigesetzt worden. Hier ist im Jahr 1960 zum Gedenken an die Opfer ein Mahnmal eingeweiht worden, das alle künftigen Generationen daran erinnern soll, für Völkerverständigung, Menschenrechte, Toleranz und Frieden einzutreten. Den historischen Hintergrund muss man kennen, wenn ich in diesem Zusammenhang einige Erinnerungssplitter schildere, die mir bis heute im Gedächtnis haften geblieben sind und die beklemmende Erinnerungen an meine Kindheit wachrufen. Mich beschleicht auch heute noch beim Betreten dieses Ortes mit seinem großen, anonymen Gräberfeld ein unbehagliches Gefühl.

Ich vermute, dass ich mich in der Endphase des Krieges wegen der ständig drohenden Luftangriffe meist unter der Aufsicht der Erwachsenen aufhalten musste, die wahrscheinlich glaubten, dass ich so tief in mein Spiel versunken sei, dass ich ihren Gesprächen weder zuhören noch deren Inhalt verstehen würde. Insbesondere wenn gedämpft gesprochen oder gar geflüstert wurde, weckte dies meine Aufmerksamkeit, sodass ich als damals noch nicht ganz Fünfjähriger einige Bruchstücke aus den Gesprächen der Erwachsenen aufgefangen und behalten habe. Dabei wurde über furchtbare Dinge getuschelt, die im Gestapo-Keller in Dortmund-Hörde vorgefallen sein sollten. Lediglich Tante Ida (in Wahrheit die Schwägerin meiner Oma), die uns häufig besuchte, nahm wohl kein Blatt vor den Mund, denn ich erinnere mich an die erschreckten Reaktionen meiner ängstlichen Mutter, die mahnte: „Ida, sei bloß still. Du wirst sonst noch abgeholt.“ Zwar wusste ich nicht, von wem und warum Tante Ida abgeholt werden sollte, aber die besorgte Tonlage meiner Mutter ließ keinen Zweifel an der damit verbundenen Gefahr aufkommen. Aus Erzählungen in späteren Jahren schließe ich heute, dass Ida und ihr Mann – ein Bergmann, der wegen der kriegswichtigen Kohleproduktion nicht zur Wehrmacht eingezogen wurde – der Sozialdemokratie nahestanden und dies auch in der Nazizeit zumindest im kleinen Kreis kundtaten.

Nach dem Einmarsch der Amerikaner hätte man zwar offen über die Gräuel der Gestapo sprechen können, dennoch senkten die Erwachsenen immer noch ihre Stimme, wenn darüber gesprochen wurde. Und so entging es dem unbeachteten Lauscher nicht, dass man im Rombergpark und im Bittermärker Wald viele Tote gefunden hatte, die in Bombentrichtern verscharrt worden waren (die Alliierten hatten auch Bomben über den Wäldern abgeworfen, weil sie dort Munitionsläger vermuteten). Man tuschelte, dass die Besatzungsmacht im Zuge der beginnenden Entnazifizierungsmaßnahmen die vormals aktiven Mitglieder der NSDAP abkommandierte und ihnen befahl, die Toten zu bergen, aufzubahren und zu beerdigen. Hinter vorgehaltener Hand wurde auch ein weitläufiger Verwandter genannt, der nach Kriegsende verzogen ist und den ich nie wiedergesehen habe.

Mit Grauen denke ich an eine andere Begebenheit, die ich als Kind erlebt habe. Es muss im Frühjahr 1945 nach Ende der Kampfhandlungen im Ruhrgebiet gewesen sein, als ich meine Mutter und meinen Opa begleiten durfte, die in den Wäldern des Rombergparks Reisigzweige für den Anbau von Erbsen sammeln wollten. Das fand ich anfangs abenteuerlich, denn wir mussten die Wege verlassen und das Unterholz durchqueren. Noch heute denke ich mit Entsetzen an den Schreckensschrei meiner Mutter, als sie einen herumliegenden Hut aufhob, in dem sich ein Fliegenschwarm über das darin vergossene Blut hergemacht hatte und auseinanderstob. Vermutlich handelte es sich um die Kopfbedeckung eines Ermordeten, der in der Bittermark bestattet worden war. Ich kann mich genau erinnern, welchen Ekel ich als Kind vor dem Blut und den Fliegen empfunden habe.

Meine Erinnerungen scheinen ein Indiz dafür zu sein, dass die Gräueltaten der Nationalsozialisten zumindest gegen Ende ihrer Herrschaft vielen Menschen nicht verborgen geblieben waren und dass darüber auch gesprochen wurde. In meiner – weitläufigen – Verwandtschaft schwankte die Bandbreite der Einstellungen gegenüber dem Nationalsozialismus offensichtlich zwischen überzeugtem Mitmachen, ängstlichem Schweigen bis hin zu weitgehend ohnmächtiger Ablehnung. Es wäre interessant zu wissen, wie diese Verhaltensstrategien damals in der Gesamtbevölkerung verteilt waren; leider dürften diese Fakten für immer im Orkus der Geschichte verschwunden sein. „Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.“ (August Bebel, oft zitiert, u. a. sogar in einer Rede von Helmut Kohl).

Heute sind die ausgedehnten und gut erschlossenen Wälder im Dortmunder Süden ein beliebtes Erholungsgebiet zum Spazierengehen, Joggen und Fahrradfahren einschließlich Mountainbiking. Der Pilgerweg nach Santiago de Compostela führt am Mahnmal vorbei.

 

Dr. Walter Vollmer

Dortmund-Bittermark 1945

Eine Erinnerung von Walter Vollmer

3 Bewertungen

  1. Persönliche, autentische Erinnerungen sind neben der wissenschaftlichen Aufbereitung der Fakten ein wichtiger Beitrag zum Geschichtsverständnis.

    Als 12 Jahre jüngerer Bruder des Verfassers habe ich die Schrecken der Nazizeit und das Kriegsende nicht mehr erlebt. Die Details der Geschichte, die mein Bruder hier erzählt, waren mir bis zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung nicht bekannt. Obwohl wir eigentlich in der Familie den politischen Dialog pflegten, wurden die Greuel der Nazizeit nie detailliert angesprochen. U. a. in Romen von Erich Maria Remarque habe ich dann viel darüber gelesen. Es ist aber autentischer und berührt einen deutlich tiefer, wenn ein nahestehender Mensch solche persönlichen Erinnerungen mitteilt. Von daher bin ich dankbar für diese Veröffentlichung, die das Thema neu entfacht hat. Es ist wichtig, sich immer wieder vor Augen zu halten, wohin Intolleranz, Haß auf Andersdenkene oder Andersgläubige und Gewaltbereitschaft führen können.

  2. Ostermarsch mit den Falken

    Hier war ich zumeist an Ostern mit den Jungfalken zur DEMO
    Viele gemeinsame Stunden sind in meiner Erinnerung in großer Gemeinschaft

  3. Zeitzeugen sind Zeugen der Zeit, die ohne ihr Zeugnis verschwinden würde.

    Beeindruckend! Ihr Text, lieber Dr. Vollmer, ist für sich genommen schon eine voll ausreichende Begründung dafür, dass dieses Portal hier richtig und nötig ist.

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