Mit dem Projekt ZEIT-RÄUME RUHR haben das Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum und das Ruhr Museum im Auftrag des Regionalverbands Ruhr und des Landes Nordrhein-Westfalen von 2017 bis 2018 auf diesem Portal einen öffentlichen Dialog mit der Bevölkerung der Region geführt. Ziel war es, möglichst viele Erinnerungsorte der Bewohnerinnen und Bewohner zu dokumentieren, zu sammeln, und diskutieren zu lassen.
Bis zum 31. Dezember 2018 wurden schließlich 266 und 469 Kommentare veröffentlicht.
DIE HINTERGRÜNDE DES PROJEKTS
Der nach wie vor anhaltende wirtschaftliche und soziale Wandel des Ruhrgebiets stellt seine Bewohnerinnen und Bewohner vor die besondere Herausforderung, diese Veränderungen zu verarbeiten und zugleich neue Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Obwohl die ehemals größte Montanregion Europas längst den Weg zu einer modernen Dienstleistungs-, Kultur-, Wissenschafts- und Freizeit-Region eingeschlagen hat, sind die Umrisse ihrer Zukunft im Einzelnen noch nicht erkennbar. Die fortwährende kulturelle Identifikation mit der industriellen Vergangenheit unter dem Schlagwort der Industriekultur wird diese Prozesse kaum allein schultern können. Dennoch kommt der Vergangenheit an sich in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle zu, liegen in ihr doch die Wurzeln regionaler Zukunftsentwürfe.
Vor diesem Hintergrund war es Ziel des vom Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum und der Stiftung Ruhr Museum im Auftrag des Regionalverbandes Ruhr und des Landes Nordrhein-Westfalen durchgeführten Projekts ZEIT-RÄUME RUHR einen öffentlichen Dialog über die verschiedenen Formen der Ruhrgebiets-Erinnerung zu realisieren. Speziell die Menschen der Region waren dazu aufgerufen, sich aktiv an diesem Dialog zu beteiligen, da nur mit den vielen Erinnerungsorten seiner Bewohnerinnen und Bewohner die Vielfalt kollektiver Identitätsentwürfe sowie zukünftiger Potenziale und Ideen für das Ruhrgebiet ergründet werden können. So ging es dem Projekt in der Hauptsache um die Suche nach den Erinnerungsorten des Ruhrgebiets.
Auf welchen Teil der Ruhrgebietsgeschichte, auf welche Phänomene und Ereignisse beziehen sie sich und wie verändern sie sich?
Da Erinnerungsorte niemals gleich bleiben, sondern durch das stetige Vergehen der Zeit fortwährend in Bewegung sind und ständig um- und neukonstruiert werden, wurde dem Begriff der Zeit im Projekt explizit große Bedeutung beigemessen. Wie ein Text, der von vielen verschiedenen Personen und Gruppen zu verschiedenen Zeiten aus unterschiedlichsten Beweggründen über- oder neubeschrieben wird, sind Erinnerungsorte niemals starre Gebilde. Vielmehr werden sie ununterbrochen mit anderen Bedeutungen belegt und von den Umständen der jeweiligen Gegenwart bestimmt. Nehmen wir zum Beispiel die Essener Zeche Zollverein: Als Erinnerungsort der vielen Bergmänner und ihrer Familien steht sie hier vermutlich für harte Arbeit – „Maloche“ – und das tägliche Brot. Zugleich ist die ehemals größte Steinkohlenzeche der Welt heute als Weltkulturerbe ein kollektiver Erinnerungsort für ganze Generationen der Ruhrgebietsbevölkerung, die sich dem industriellen Erbe ihrer Region verbunden fühlen. Damit hat sie im Zuge ihrer industriekulturellen und dienstleistungsbezogenen Wiedererschließung und Umnutzung einen Bedeutungswandel erfahren, der wiederum neue Erinnerungen an kulturelle Ereignisse und Begegnungen produziert.
Dennoch hätten die vielen verschiedenen Erinnerungsorte unserer Region als Ansammlung einzelner, unverbundener Orte nur wenig Sinn ergeben. Erst indem man sie in Beziehung zueinander setzt, ihre Vielfalt einfängt, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede offenlegt und somit auch die sich an ihnen anlagernden Erinnerungen verschiedener Zeiten sichtbar macht, treten die ZEIT-RÄUME des Ruhrgebiets hervor, die wie eine Schatzkarte zur Spurensuche einladen.
Diese ZEIT-RÄUME mit und für eine breite Öffentlichkeit zu erfassen, sichtbar zu machen, zu lesen und kritisch zu diskutieren, hat sich das Projekt ZEIT-RÄUME RUHR zur Aufgabe gesetzt. Durch das Bündeln vieler diverser Erinnerungsorte seiner Bewohner lassen sich nun verschiedenste, an einzelnen Orten überlagernde, ZEIT-RÄUME des Ruhrgebiets erfassen, die es ermöglichen, sowohl unterschiedlichste, sich im Laufe der Zeit wandelnde Identitätsbezüge unserer Region als auch diverse Perspektiven und Entwürfe für ihre gegenwärtige und künftige Entwicklung auszumachen und gemeinsam zu diskutieren.
DAS KONZEPT DER ERINNERUNGSORTE
Der Begriff Erinnerungsort ist eine Wortschöpfung, die ursprünglich auf das von dem französischen Historiker Pierre Nora für die französische Nationalgeschichte konzipierte siebenbändige Werk „Les lieux de mémoire“ (1984-1992) zurückgeht, das wiederum von den Arbeiten zum kollektiven Gedächtnis des französischen Soziologen und Philosophen Maurice Halbwachs beeinflusst worden war. Seitdem wurde Noras Konzept mehrfach übertragen und weiterentwickelt.
Grundlage all dieser Überlegungen ist die Annahme, dass sich die individuellen Erinnerungen einzelner Menschen sowie die gemeinsame Erinnerung von Kollektiven (wie beispielsweise der Bewohnerinnen und Bewohner unserer Region) an bestimmten Orten bündeln, an denen nach allgemeiner Meinung etwas Entscheidendes geschehen ist. Das heißt, dass viele Menschen etwas mit diesen Orten verbinden, sie für ihre eigene Identität als relevant ansehen. Indem ein solcher Ort vielen verschiedenen Menschen mit seiner historischen Bedeutung einen gemeinsamen Bezugspunkt liefert, stiftet der Ort kollektive Identität.
Diese Orte, als Ankerpunkte kollektiver Erinnerungen, müssen dabei nicht unbedingt konkrete Örtlichkeiten darstellen, die Erinnerungen können sich auch an einer Persönlichkeit, einem Symbol, einem Ritual, einem Begriff oder einem Ereignis manifestieren. Ebenso kann die Erinnerung selbstverständlich auch negativ oder konflikthaft besetzt sein. Entscheidend ist, dass die Erinnerungen symbolische Bedeutung für eine Gemeinschaft haben – eine kollektive Erinnerung ausdrücken, die an ihnen sichtbar wird.
DIE ERINNERUNGSORTE DES RUHRGEBIETS
Bei der Suche nach den Erinnerungsorten des Ruhrgebiets werden natürlich die industrielle Vergangenheit sowie die Standorte der Industriekultur der Region eine zentrale Rolle einnehmen, allerdings wird explizit auch nach verborgenen oder vergessenen Erinnerungsorten vor und nach der Industrialisierung gesucht.
Da jede gesellschaftliche Gruppe oder Gemeinschaft im Ruhrgebiet über eigene Erinnerungen und Geschichtsbilder verfügt, unterscheiden sich selbstverständlich auch ihre Erinnerungsorte. Ältere Generationen, die beispielsweise noch die schwerindustrielle Vergangenheit der Region aktiv miterlebt haben, können andere Erinnerungsorte besitzen als jüngere, da Erinnerungsorte immer durch die Umstände der jeweiligen Gegenwart bestimmt werden. Ebenso können sich die Erinnerungsorte verschiedener konfessioneller Gemeinschaften, kultureller Vereine oder vieler anderer Gruppen und Gemeinschaften unterscheiden. Zugleich können sich natürlich auch unterschiedliche Erinnerungen verschiedener Gruppen am selben Ort manifestieren. Somit sind Erinnerungsorte niemals gleichbleibend, sondern können fortlaufend mit anderen Bedeutungen belegt und gestaltet werden. Sie können sich überschneiden, neben-, mit- und übereinander existieren. Gebündelt lassen sie die ZEIT-RÄUME RUHR sichtbar werden.
DIE GESCHICHTE DES PROJEKTS
Erste Vorarbeiten zum Projekt ZEIT-RÄUME RUHR starteten bereits im Jahr 2012, als das Bochumer Institut für soziale Bewegungen und das Ruhr Museum auf Zollverein im Auftrag des Regionalverbandes Ruhr und des Landes Nordrhein-Westfalen ein Projekt ins Leben riefen, das sich mit den „Erinnerungsorten Ruhr“ auseinandersetzen sollte.
Nach einer ersten internationalen Tagung im Bochumer Haus der Geschichte des Ruhrgebiets im Dezember 2012, die sich mit der Frage auseinandersetzte, wie man das von der europäischen Geschichtsschreibung entwickelte Erinnerungsorte-Konzept auf altindustrielle Regionen übertragen könne, wurde schnell klar, dass es von lohnendem Interesse ist, dieses Konzept speziell für und auf das Ruhrgebiet anzuwenden.
Zu diesen Zwecken sollte das Konzept der Erinnerungsorte allerdings zunächst einer generellen Überprüfung unterzogen werden. Antworten auf die Fragen, wie sich das Konzept in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat, nach seiner Adaption und Weiterentwicklung sowie nach seinen Stärken und Schwächen wurden schließlich in dem 2014 von Stefan Berger und Joana Seiffert herausgegebenen Tagungsband „Erinnerungsorte. Chancen, Grenzen und Perspektiven eines Erfolgskonzeptes in den Kulturwissenschaften“ verhandelt.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Tagungsbandes hatte bereits eine zweite Tagung im Dezember 2013 im Ruhr Museum stattgefunden, die sich mit den Erinnerungslandschaften des Ruhrgebiets auseinandergesetzt hat. Anhand einer Auswahl unterschiedlicher Erinnerungsorte der Region wurde erörtert, wie diese regionalen Erinnerungsorte beschrieben werden können und worin ihr letztendlicher Erkenntniswert liegt. Die zweitägige Konferenz stieß innerhalb des Ruhrgebiets auf viel Aufmerksamkeit und Interesse und leitete eine Reflexions- und weitere Projektphase ein, in der intensiv an einem zeitgemäßen weiterführenden Zuschnitt des Erinnerungsorte-Konzepts für das Ruhrgebiet gearbeitet wurde. Diese Überlegungen mündeten schließlich im eigentlichen Projekt ZEIT-RÄUME RUHR, das sich zum Ziel gesetzt hat, einen öffentlichen Dialog über die verschiedenen Formen der Ruhrgebiets-Erinnerung zu realisieren. In Erweiterung des oftmals eher statisch gedachten Erinnerungsorte-Konzepts sollen nicht nur die Vielfalt kollektiver Identitätsentwürfe, sondern gerade auch künftige Potenziale und Ideen für das Ruhrgebiet ergründet werden.
Im Juni 2016 fand dann im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets die offizielle, öffentlichkeitswirksame Auftaktveranstaltung des nach diesem Reflexionsprozess nunmehr unter dem Namen ZEIT-RÄUME RUHR firmierenden Projekts statt, das sich mit seinen drei Bausteinen Website, Buch und Konvent an die Menschen der Region gewendet hat.
DIE BAUSTEINE DES PROJEKTS
Insgesamt bestanddas Projekt ZEIT-RÄUME RUHR aus drei Projektbausteinen, die jeweils eine andere Komponente im öffentlichen Dialog über die verschiedenen Ankerpunkte der Ruhrgebiets-Erinnerung beigesteuert haben. Für die regionale wie für die internationale Öffentlichkeit sollteauf diese Weise eine gedankliche Topografie bzw. ein strategisches Leitmuster der Region entstehen, das sich in die Zeit hinein entwirft, und somit explizit Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit verknüpft.
Neben der Website wurdeim Rahmen des Projektes außerdem ein mehrtägiger interdisziplinärer Konvent auf dem Welterbe Zollverein realisiert sowie eine Publikation mit den zentralen Erinnerungsorten des Ruhrgebiets veröffentlicht.
Zusammengefasst ging es entsprechend der Leitidee also darum, die diversen Erinnerungsorte des Ruhrgebiets zu bündeln, die Ankerpunkte der Ruhrgebiets-Erinnerung dadurchsichtbar werden zu lassen und somit den Erinnerungsraum Ruhrgebiet erstmals zu vermessen.
Mit der Website hat das Projekt allen Interessierten umfangreiche und leicht zugängliche Interaktionsmöglichkeiten geboten, um die Erinnerungskultur der Region aktiv mitverhandeln zu können. Dies reichte von einfachen Befragungs- und Abstimmungsinstrumenten zu den entsprechenden Erinnerungsorten des Ruhrgebiets (Uploading, Voting etc.) bis hin zu moderierten Diskursen im Blog-Format. Ob vom heimischen PC oder von unterwegs – jeder konnte den Dialog zu den ZEIT-RÄUMEN RUHR verfolgen, lenken und aktiv gestalten.
Im Frühsommer 2019 wurde schließlich das projekteigene Buch „Zeit-Räume Ruhr. Erinnerungsorte des Ruhrgebiets“ mit nahezu 50 Beiträgen renommierter Autorinnen und Autoren veröffentlicht, die darin die wechselseitigen Einflüsse und Bezüge der Faktoren und Momente reflektieren, die den Wandel der Region prägen und das Ruhrgebiet mit einer neuen Identität versehen. Neben montan-industriellen Klassikern wie Zechen, Hütten und Stahl bietet der Band auch eine Fülle einschlägiger immaterieller Erinnerungsorte wie etwa Streik, Migration oder Ruhrdeutsch. Selbstverständlich sind auch fest in die Erinnerungen der Metropole Ruhr eingeschriebene kulturelle Phänomene wie der Fußball, die Bude, die Currywurst oder der Döner mit dabei. Damit macht der Band ein Angebot zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Region. Die Erinnerungsgeschichte des Ruhrgebiets lebt von der Vielfalt und vom Streit über den Wert von Erinnerungen. Eine solche Auseinandersetzung belebt die Erinnerungslandschaft und verhindert, dass sie verblasst oder im Konsens verstaubt. Der Band soll daher nicht zuletzt auch die Diskussion um die Region Ruhrgebiet anregen.
Zum offiziellen Abschluss des Projekts waren alle Interessierten am 26./27. Juni 2018 schließlich herzlich eingeladen, dem großen ZEIT-RÄUME RUHR Konvent auf dem Welterbe Zollverein beizuwohnen. Hier wurden nicht nur erste Ergebnisse des öffentlichen Dialoges über die Ankerpunkte der Ruhrgebiets-Erinnerung präsentiert, sondern auch ausgewählte Erinnerungsorte von Fachleuten vorgestellt und diskutiert. Dabei ging es insbesondere auch um Aktualität und Relevanz dieser Erinnerungslandschaften für die Gegenwart und Zukunft der Region.