Kanal- und Emscherbrücke, Adenauerallee und Berliner Brücke, Gelsenkirchen Schalke
1973Erinnerungsort: Kanal- und Emscherbrücke Adenauerallee und Berliner Brücke in Gelsenkirchen
Es gab Tage im Ruhrgebiet der 70iger Jahre, die so klar waren, dass man ihre morgendliche Frische kaum glauben konnte, onwohl sie spürbar durch alle Poren drang. Ich erinnere mich an diese Überraschungen des beginnenden Tages sommers wie winters. Sie kamen mir vor wie ein Geschenk Gottes, an den ich zwar nicht wirklich glaubte, dessen mögliche Existenz mich aber in diesen Momenten weniger irritierte und mir weniger unwahrscheinlich als sonst erschien, ja mich bei dem Gedanken „Gott hat ein Auge aufs Ruhrgebiet“ mit einem rational nicht begründbaren, diffusen Stolz erfüllte. Vielleicht lag das an der erstaunlich homogenen Mischung aus Ruhe, Unberührtheit – frisch und klar wie am ersten Tag – und Gelassenheit, eine Atmosphäre, die schon auf dem kurzen Weg zur Bushaltestelle nicht nur die eigene Gestimmtheit und die Natur ergriff – die noch kleineren Bäume im Fettingkotten, das Ziergesträuch vor der Sparkasse und in der Suhrkampstraße – sondern auch die Häuser, die Straßenzüge, den strahlend blauen Himmel sowieso über diesem eher kleinbürgerlichen Wohnviertel genannt Berger Feld.
Als hätte ein freundlicher Geist, der keinen Widerspruch duldet, sie angefüllt mit einer vielversprechenden Zugeneigtheit und einer allgemeinen Freundlichkeit, bei der sich Ausraster am Frühstückstisch oder ein kurzer Anschnauzer beim hektischen Verlassen des Hauses im Spurt auf die Bushalte zu von selbst verboten.
Seltsamerweise kommt es mir so vor, als hätte ich an solchen Morgenden nie den Bus verpasst, sondern im Gegenteil tatsächlich immer noch eine halbe Minute in der frühen Sonne dort verharrt und ein kurzes Weilchen Zeit gehabt zum unbestimmten Nachdenken und Sinnen bevor der 80iger oben links an der Ecke Suhrkampstraße auftauchte, an der sich in früheren Zeiten die Lebensmitteldiscounter Huus und Edeka gegenüber lagen.
Besonders eigenwillig aber wirkte diese ruhige Atmosphäre auf den weiten, damals rechts und links der Adenauerallee noch unbebauten Feldern Richtung Emscher- und Kanalbrücke. Sie waren mit irgendeiner niedrig wachsenden Art Gemüse – war es eine Kohlsorte? – in schnurgeraden Reihen bepflanzt und dehnten sich weit bis in die Ferne.
Meist war es mir gelungen, einen Sitzplatz auf der rechten Seite de Busses zu ergattern. Denn von dort aus erlaubten die großen Fenster einen ungestörten Blick auf die noch nicht lange aufgegangene Sonne. Als rote übergroße Scheibe stand sie handbreit über den Feldern. Je erneut war ich überrascht mit welch sanfter Wucht der rote Sonnenball, die Klarheit der Luft und die Ruhe des frühen Tages diesen Blick auf ein an sich langweiliges, ödes Gelände verwandelte in eine Form des Erhabenen. Eine Erhabenheit, die sich nicht aus dramatischen Brüchen, Klüften, Höhen, Schluchten und Kontrasten speiste, sondern einer Ödnis, die sich in Weite, einer Gleichförmigkeit, die sich in ein Versprechen der Ferne verwandelte. Eine dramatische Aufladung erfuhr der Blick erst an den Stahlbrücken über Emscher und Kanal: ihre Stahlverstrebungen kreuzten im Vordergrund die Sonnenscheibe, etwas entfernter das Linien- und Gitterwerk irgendwelcher Kranbrücken und die noch sachten müden Schwenkbewegungen der Hebekräne, die sich entlang des Kanals Richtung Hafen Heßler und Müllers Mühle befanden. Dieses durch die Fahrbewegung des Busses rasante Gitterwerk-Lichtspiel widerholte sich in variierter Gestalt auf der Berliner Brücke. Mitten im urbanen Raum schwingt sich der hohe Bogen der Straßenbrücke zwischen Schalke und Bismark auf die beginnende Gelsenkirchener Stadtmitte zu damals über ein Industriegelände mit einem mittelgroßen Verwaltungsgebäude linker Hand, stählernen Werkshallen rechter Hand und einem dicht gelegten Schienennetz am Boden. Ich weiß bis heute nicht, was dort produziert, gefertigt und verladen wurde. Und ich möchte wetten, dass dieses Nichtwissen über die Industrien und Produktionsstätten in seiner Umgebung, wenn nicht irgendein Familienmitglied dort arbeitet, für den durchschnittlichen Großstadtbewohner gar nicht so selten ist.
Ich weiß aber, dass über diesem blinden Fleck des Nichtwissens auch hier die inzwischen etwas höher gestiegene nicht mehr ganz so rote Sonne regelmäßig gekreuzt wurde von einem sehr hohen quergeführten Krangitter – ein Blickaugenblick, der nicht verpasst werden wollte und der doch unterbrochen wurde von ein paar Sekunden auf die in der Nähe hängende Werksuhr mit der Frage, ob ich wohl pünktlich in der Schule sein würde.
Von dem Anflug einer erhabenen Empfindung, den auch dieser Anblick von Industrieanlagen vor der Natur an den glasklaren, durchsichtigen frühen Morgenstunden in mir auslöste, gesteigert durch den geweiteten Blick von oben beisst auch mit dieser Zeitinformation keine Maus auch nur das kleinste Stückchen eines Fadens ab.
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Klare Schönheit des Augenblicks
Sehr hohe athmosphärische Dichte und eine Klarheit und aufkommende innere Freude ohne weiteren Grund kann ich sehr gut nachvollziehen, wenn auch nicht am gleichen Ort, aber doch ganz bestimmt in Gelsenkirchen, in der Feldmark, in Schalke, auch auf der Hochbrücke Kurt-Schumacher-Strasse. Danke für diese schöne Erinnerung!
Die Bilder dazu ...
… entstehen im Kopf