In dieser Stadt war ich mal zuhaus‘

1965-85

Ich komme aus einer westdeutschen Industriestadt. Bochum. Ruhrgebiet. Als ich Kind war, sah die Stadt ganz anders aus. Das war in den 60er und 70er Jahren. Die Luft war schlecht.

 

Auf der Einkaufsstraße liefen dicke junge Frauen in beigen Mänteln, die um ihre Bäuche spannten. Ihre Haare waren struppige Dauerkrausen. Sie riefen unlustig zu ihren Kindern: Andrea komm gez.  Dagmar lass dat. Michael willsse woll.

 

Vor der Kaufhalle stand ein Automat mit einem durchsichtigen Tank, an dessen Wänden innen ohne Pause Orangensaft herunterlief und wieder hochgepumpt wurde. Meine Mutter ekelte sich davor. Im Kaufhaus Kortum bekamen meine Schwester und ich dunkelblaue Nicki-Pullover und wurden fotografiert. Da stand auch die Bimbobox, in der Affen Musik machten.

 

Ins Cafè Döhmann ging meine Oma manchmal mit mir, Baiser mit Schlagsahne oder Mohrenkopf. Gegenüber dem Bahnhof konnte man bei Wimpy essen, aber das war zu ungesund für uns. Es gab ein Parkhaus mit einem Autoschalter der Sparkasse, da stand unser hellgrauer Opel Kadett, mit dem fuhren wir nachhause.

 

Am Sonntag machten wir einen Spaziergang in Sprockhövel oder auf dem Höhenweg bei Blankenstein. Da bin ich einmal ausgerutscht und einen matschigen Abhang runter gerutscht, sodass ich ganz voller Matsche war. Es war mir so peinlich, dass ich niemanden anschauen konnte, der uns entgegen kam und den Kopf in die Kapuze von meinem dunkelblauen Anorak drehte. Einmal bin ich im Supermarkt Deschauer verloren gegangen und wurde ausgerufen: Der kleine Thomas Avenhaus hat seine Eltern verloren. Das war genauso peinlich. Beide Orte, Höhenweg und Deschauer, wurden jahrelang gemieden, noch heute verursachen die Namen Unbehagen bei mir.

 

Im Frühling flogen wir nach Spanien, im Sommer machten wir Ferien auf dem Bauernhof, in schöner Landschaft. In der Pfalz, im Schwarzwald, in Schleswig Holstein. Ich habe die Schule gehasst. Wenn sich die Eltern nach dem Mittagessen hinlegten, bin ich in die Stadt gegangen und hab mir bei Elpi oder Alro Plattenhüllen angeschaut oder im InShop an Naturledertaschen gerochen. Eine Zeit lang habe ich jeden Tag im Fotofix am Hauptbahnhof eine 4er Serie Passbilder machen lassen. Unistraße, Herrmannshöhe, Oskar Hoffmann Straße. Ich bin mit 20 weggezogen.

 

Ich fahre dort hin, um meine Eltern in meinem Elternhaus oder im Krankenhaus zu besuchen. Ich bin so alt wie meine Eltern, als ich von dort wegging. Ich komme jetzt lieber wieder zurück als früher. Ich habe jetzt ein anderes Verhältnis zu meiner Heimatstadt als ich es lange hatte. Früher kam sie mir eng, proletenhaft, erstickend, beängstigend, lähmend, trostlos, tot und tötend vor. Heute schaue ich mir alles an und denke: Da bist du groß geworden. Das gehört zu dir. Das hat dich geprägt.

 

Ich kann mich an alles erinnern. Meine Erinnerung ist groß, präzise, detailbesessen. Ich kann mit an die dunkelgrünen Autobusse erinnern, an die Klapptüren der Straßenbahn, an die Deckel der Aschenbecher bei den Rücksitzen des Kadett. An die Knöpfe auf der Couch meiner Oma. An ihre Brosche. An die Form der Schlüssel ihres Kleiderschranks, an den Inhalt und Geruch ihrer Handtasche. An das Schreibwarengeschäft, den Haushaltswarenladen, den Geruch der Kühltheke des Fleischers, die Kittel der Frauen in der Heißmangel, den Besitzer der Drogerie, der rote Augen vom Trinken hatte. An die Häuser in der Stadt, die Spielzeugläden, die Cafés. Alles ist anders, abgerissen, neu aufgebaut, schon wieder besprüht, kaputt gemacht, dreckig und noch ein bißchen ärmer als in den siebziger und achtziger Jahren, den fetten Jahren.

 

Die Frauen sind immer noch dick, aber sie tragen keine Mäntel mehr für die sie zu jung sind, sondern bunte Freizeitkleidung. Es sind auch nicht mehr nur Frauen aus Werne, Hamme, Hordel, Gerthe, Langendreer, Laer, Altenbochum, Riemke, Herne, Wanne und Anatolien, sondern aus Uganda, Nigeria, Bosnien, Russland, Syrien, Algerien, Marokko.

 

Seit einiger Zeit bin ich in einem Facebook Forum, das Bilder vom historischen Bochum postet, liked und kommentiert. Viele der Forumsmitglieder sind in meinem Alter. Ich frage mich, warum wir alle so nostalgisch sind. Es ist eine Mischung von Postkarten und Amateurfotos aus der eigenen Vergangenheit und einer Vor-Vergangenheit, die wir fasziniert sammeln und anstarren und kommentieren. Oft steht da etwas wie: Ich würde gern mal durch das Bochum des Jahres 1928 gehen.

 

Ich glaube, die Faszination hat etwas damit zu tun, dass die Stadt nie eine feste Form hatte, ihr Erscheinungsbild den wechselnden wirtschaftlichen Diktaten angepasst hat, durch den Krieg fast vollkommen zerstört und dann schnell und autogerecht wieder aufgebaut wurde und unter diesen stumpfen und destruktiven Bedingungen keine Identität geschweige denn Schönheit hat entwickeln können, so dass sie quasi in jeder Dekade ihr Gesicht verändert hat, keine Tradition und Heimeligkeit kennt. Niemand denkt: Das müssen wir bewahren, das ist es wert. Es gibt einige wenige alte Häuser in der Innenstadt, die den Krieg überlebt haben, die sind konserviert. Der Rest wird – auch wenn er denkmalgeschützt war wie das Stadtbad – schnell abgerissen und durch etwas ersetzt, dem man die Flüchtigkeit sofort ansieht, sobald es neu da steht. Das Austauschen von Fotos ist wie das Beschwören einer Herkunft, einer festen Größe – und mit jedem Bild wird doch nur etwas Zerstörtes, Verlorenes gezeigt.

 

Ich selbst spüre aber nie Wehmut beim Betrachten der  Bilder, sondern habe ein Gefühl, das sich schwer in Worte fassen lässt. Es hat etwas mit dem Rätsel der eigenen Herkunft zu tun. Damit, dass man die lange Kette der Menschen, deren Gene man in sich trägt, nie kennengelernt hat, dass ihre Orte schon lange verschwunden sind, so wie die eigenen Orte verschwinden und schließlich man selbst auch, und es hat etwas damit zu tun, dass diese Stadt alles stoisch hinnimmt und sich weiter verändert, nichts behält und alles durch sich hindurch fließen lässt.

Eine Erinnerung von Thomas A.

7 Bewertungen

  1. Empfindungen

    Da hast viel über Deine Erinnerungen und Empfindungen geschrieben. Sehr anschaulich und verständlich. Schade nur (für Dich), dass diese doch überwiegend negativ geprägt sind.

  2. Nachdenkenswert

    Über diesen Beitrag musst du nachdenken. Ich bin Bochumer, habe aber fünf Jahre in Leer/Ostfriesland gewohnt, sodass ich manches an dem Beitrag nachvollziehen kann. Leer besitzt wegen der Pflege der historischen Alt- und Innenstadt ein Flair, was es in Bochum nicht gibt. Bochum wurde nach dem Krieg nicht nachhaltig genug geplant und aufgebaut. Manche Planungen besitzen einen flüchtigen Charakter. Ich denke da nur an den Vorplatz des Bochumer Hauptbahnhofs. Bei der Eröffnung 1967 war dieser großflächig ausgebaut. In den 1980 Jahren wurde dann der Vorplatz mit Verkaufspavillons „zugepflastert“, weil das modern sein sollte. Zu Beginn des 21. Jahrhnderts riss man diese wieder ab, weil nach neuerer Auffassung ein großer offener Vorplatz zum Charakter einer Großstadt gehört und schuf zudem einen „roten Teppich“ in Richtung Bochumer Innenstadt. Manchmal scheint Bochum vor sich selbst zu flüchten. Aber es kann auch daran liegen, dass Bochum durch den Strukturwandel sehr flexibel geworden ist. Trotz Jahre in Leer fühle ich mich seit 28 Jahren wieder wohl in Bochum.

  3. Bestand hat nur die Veränderung

    Ja, Bochum unterliegt durch den Strukturwandel starken Veränderungen. Bergbau gibt es nicht mehr und die Stahlindustrie ist arg geschrumpft. Firmen wie Nokia und Opel, die zur Bewältigung der Strukturkrise angesiedelt wurden, sind auch längst Vergangenheit. Das Gesicht der Stadt unterliegt deshalb einem ständigen Wandel. Bestand hat nur die Veränderung. Das macht Bochum zu einer besonderen Stadt.

  4. Bestand hat nur die Veränderung

    Der Strukturwandel verändert ständig das Gesicht von Bochum. Bestand hat hier nur die Veränderung. Wir Bochumer leben damit.

  5. Bestand hat nur die Veränderung

    Bochum wird nie das Flair alter historischer Städte aufweisen können. Dazu ist die Stadt noch zu jung. Durch den kontinuierlichen Strukturwandel ändert sie ständig ihr Gesicht. Das Einzige, das in Bochum Bestand hat, ist die Veränderung. Der frische Wind der Veränderung verhindert aber eine Verstaubung der Stadt, macht das Leben für die Menschen spannend. Manchmal auch zu spannend.

  6. 4 Bewertungen

    Hier hat wohl jemand Spaß daran, Bewertungen zu schreiben. 4 mal mit fast gleichem Inhalt ist schon ganz toll. Weiter so.

  7. ALLES IST EINE FRAGE DER ZEIT

    Meine Kindheitserinnerungen kreuzen sich interessanterweise mit denen von Heinz Rittermeier: In Leer/Ostfriesland aufgewachsen bin ich im letzten Kriegsjahr nach einem Bombenangriff durch brennende Straßen als Sechsjähriger mit Mutter zu ihrem Elternhaus direkt neben der Zeche Dannenbaum I spätabends gehastet. Als Kind kennt man keine Gefahr, denn es war unser Alltag. Einige Jahre später bin ich von Leer aus in den großen Ferien mit dem Zug zu meinen Großeltern gefahren. Die Halde neben der gewundenen, talwärts führenden Straße nach Querenburg war meine Abenteuerwelt, die des Landeies. Noch heute schwelge ich in den Erinnerungen, auch weil ich den Ruhrpott-Slang so toll fand, von meinem Zimmerfenster aus den Förderturm mit seinen riesigen Rädern sehen und – kling kling – hören konnte. Abenteuerlich war die auf der Ecke gelegene Gaststätte Imping, aus der vormittags ein unglaublich intensiver Bierdunst herüberwehte, und ein gemächliches Hufgeklapper eines kohlenbeladenen einachsigen Fuhrwerks drang ans Ohr. Und morgens zum Frühstück drang der Duft ofenfrischer Brotwaren aus der ebenerdigen Bäckereifiliale die Treppe hoch. Diese und andere Erinnerungen an Bochum würde ich auf meine alten Tage gerne noch durch Fotodokumente ergänzt wissen. Kurzum: Bochum fand ich aufregend in der Wiederaufbauzeit nach dem II. Weltkrieg.

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